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4.1 Atemlos in der Nacht

Lesedauer: 5 Minuten

Er ist für uns so selbstverständlich, dass wir es beinahe die ganze Zeit unseres Lebens ignorieren. Unsere Wahrnehmung richtet sich auf alles Mögliche im Leben und alles andere ist uns wichtiger.

Bis er eines Tages aussetzt oder nicht mehr normal verhält: Ich schreibe natürlich vom Atem.

Atmen ist zum Glück ein vom Unterbewusstsein automatisierter Vorgang. Nur wenige Begebenheiten im Leben lassen ihn stocken, werfen ihn aus dem Rhythmus oder lassen ihn ganz versiegen.

Atmen kommt uns so normal vor, dass wir außerhalb von sportlichen Aktivitäten oder Bewusstseinsübungen nicht über ihn nachdenken.

Als ich drei Nächte hintereinander erwachte und keine Luft mehr bekam, wurde mir so richtig bewusst, wie wichtig atmen ist. Panisch schoss ich aus meinem Bett und rang nach Luft. Ich konnte weder welche aufnehmen noch abgeben. Mein Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. Ich spürte, wie meine Sinne langsam schwanden, versuchte zu ergründen, warum ich nicht atmen konnte. Es konnte nichts in meiner Luftröhre stecken, da keine Reizung der Atemwege auftrat. Mein Atemreflex hatte schlicht und einfach ausgesetzt. Selbst der Versuch, mit dem Finger den Gaumen zu reizen und mich zu übergeben, schlug fehl. Ich würgte zwar, doch holte ich keine Luft dadurch. Die Aktion verschlimmerte meinen Zustand noch. Ich lief aufgeregt in der Wohnung herum und wollte jemanden anrufen, doch ich konnte mich nicht mal räuspern. Außerdem war es mitten in der Nacht. Bis ich jemanden aus dem Bett geklingelt hätte und diejenige zu mir gekommen wäre, wäre es bereits zu spät gewesen.

Ich setzte mich hin und stellte fest, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Es war mehr ein Impuls, als ein wirklicher Gedanke. Meine Kraft reichte nicht einmal, um hinüber zu den Nachbarn zu gehen und  zu klingeln. Ich musste mich setzen, da meine Beine nachgaben. Mir war klar, dass ich die nächsten Minuten nicht mehr überleben würde, wenn ich keine Luft bekam. In diesem Moment kehrte ein absoluter Frieden in mir ein und ich dachte, dass es in Ordnung wäre jetzt zu gehen. Ich hatte ein gutes Leben geführt und beinahe alles erreicht, was ich erreichen wollte. Dieser Frieden breitete sich in meinem Bewusstsein und in meinem Körper aus. Irgendwie war ich sogar glücklich und dankbar, dass ich es bis hierher geschafft hatte.

Genau in diesem Moment kehrte mein Atem zurück und ich sog gierig Luft in die Lungen. Als ich mich wieder aufrichten konnte, eilte ich vor die Tür, um die köstliche Nachtluft einzuatmen. Kaum zehn Minuten später war der Spuk vorbei. In den nächsten beiden Nächten wiederholte sich das Spiel. Da ich an einer Lungenerkrankung  litt, sagte mein Arzt, dass so etwas vorkommen könnte und verschrieb mir lediglich ein Notfall-Asthma-Spray. Das benötigte ich jedoch nicht mehr, da ich seitdem jeden Abend und jeden Morgen und auch tagsüber eine Zeit lang bewusst atme.

Schon vor längerer Zeit hatte ich in einigen medizinischen Artikeln, Dokumentationen und Beiträgen in TV und Internet davon gehört, dass wir im Tagesschnitt viel zu flach atmen und deswegen ständig mit zu niedrigem Sauerstoffgehalt im Blut durch den Tag gehen. Aber erst nach den Erstickungsanfällen wurde mir auf allen Ebenen bewusst, wie wichtig unser Atemreflex tatsächlich ist.

Da ich schon lange meditiere und verschiedene Formen – geführte, freie, musikalisch unterstütze Meditationen – ausprobiert hatte, war mir ebenfalls bekannt, dass der Atem uns mit dem jetzigen Moment, dem Hier-und-Jetzt verbindet. Doch wie so oft ist Wissen nicht gleich erlebtes Begreifen.

Mein Lungenvolumen lag mehrere Monate lang durch die Sarkoidose bei nur 50%. Ich hatte viel weniger Ausdauer und alle körperlichen Aktivitäten fielen mir unheimlich schwer und strengten mich übermäßig an. Als mir dann noch die Luft wegblieb, beschäftigte ich mich mehr mit dem Atmen. Erst da breitete sich das Wissen auf allen Ebenen aus und wurde zu klarem Bewusstsein darüber, wie sehr unser Atem und der jetzige Moment zusammen gehören. Von allen Körperfunktionen lässt sich nur der Atem unkompliziert und schnell bewusst steuern. Die Art wie wir atmen transportiert spürbar und oft sicht- oder hörbar einen Teil unseres aktuellen Empfindens. Seufzen, schweres Ein- oder Ausatmen, hecheln, schnaufen, keuchen – all das sagt viel über uns aus. Zudem können wir den Atem immer nur im jetzigen Augenblick kontrollieren, sobald wir unsere Aufmerksamkeit bewusst darauf richten.

Genauso funktioniert es mit allem im Leben. Wir können nur das steuern, worauf wir im Augenblick unser Bewusstsein lenken. Daraus resultiert auch der Wunsch nach einem höheren Bewusstsein oder auch erweiterten Bewusstsein. Das ist nichts anderes, als der Wunsch danach, mehr Aufmerksamkeit auf den jetzigen Moment legen zu können.

Dabei ist es witzig, dass viele der bewusst lebenden Menschen den unbewusst lebenden Menschen unterstellen, dass diese wie ferngesteuert handeln. Viele bewusst lebende Menschen denken, sie hätten mehr von den Mechanismen und Regeln des Lebens, des Universums und des ganzen Rests verstanden und könnten mehr und besser für sich steuern. Einige schließen sogar noch ihr Umfeld mit in ihre Steuerungsversuche ein und manipulieren sie »für deren eigenes Wohl«.

Abgesehen davon, dass diese Gedanken aus dem Verstand stammen und sehr abwertend und kontrollierend sind, kenne ich einige Menschen, die keine Ahnung von den Regeln und Mechanismen haben und denen sie ganz egal sind. Sie leben automatisch und intuitiv ein Leben, das ihrem Kern entspricht. Ohne extra etwas dafür zu tun und sich bewusst entwickeln zu wollen. Sie agieren die ganze Zeit über extrem bewusst im Hier-und-Jetzt und haben ihren Fokus auf dem Wohle aller. Das hat mir früher einige Rätsel aufgegeben. Doch mittlerweile ist mir klar, dass diese Menschen bereits ihr höchstes Bewusstsein erlangt haben. Denn das höchste Bewusstsein lässt dir klar werden, dass einfach alles zu deinem Erleben dazugehört und es beinahe egal ist, was du denkst und tust, solange es dir entspricht. Auf der Ebene des höchsten Bewusstseins handelst du einfach von deiner Seele impulsgesteuert und schaust dabei zu, wie sich Wunder entfalten. Du machst dir vorher keine Gedanken über das Ergebnis, hast keine Gefühle dazu, bewertest und erwartest nicht im Voraus. Du versuchst nicht, mit aller Gewalt etwas in eine bestimmte Richtung zu bewegen, um ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen. Du handelst einfach nur und nimmst das Ergebnis so an, wie es sich entwickelt. So können echte Wunder geschehen. Das höchste Bewusstsein lässt dich klar sehen, dass du am meisten erreichst, indem du alles im Sein lässt.

Genau so leben diese Menschen unbewusst automatisch und genau das kann dich dein Atem lehren. Jeder Atemzug entscheidet darüber, ob und wie du weiterlebst. Tiefe oder viele schnelle Atemzüge reichern dein Blut mit Sauerstoff an. Hoher Blutsauerstoffgehalt macht wach und vital. Du kannst allein durch atmen Müdigkeit, Abgeschlagenheit, etlichen Schmerzarten, wie Kopfschmerzen und Gliederschmerzen und negativen bzw. depressiven Gedanken (solange sie nicht durch körperliche Ursachen oder Krankheiten ausgelöst sind) entgegenwirken.

Oft gehe ich einfach mal raus und atme einige Minuten bewusst tief ein – natürlich möglichst da, wo die Luft nicht verschmutzt ist. Ich beobachte dabei, was das mit mir macht.

Das Atmen verbindet mich ultimativ mit dem Hier-und-Jetzt. Sobald ich in irgendwelche Sphären der Gedanken oder Emotionen abdrifte und merke, dass ich mich aus meinem Sein entfernst, kann ich durch bewusste Atemzüge ganz einfach ins Hier-und-Jetzt zurückkehren. Bewusstes Atmen ist sogar der einzig sichere Weg, in den präsenten Moment zu gelangen und im vollen Bewusstsein zu bleiben.

Aber wozu will nun alle Welt in das Hier-und-Jetzt gelangen und auch dortbleiben?

Das Hier-und-Jetzt ist natürlich nichts anderes als die Gegenwart. Der Moment, den wir alle jetzt gerade erleben. Der einzige Zeitpunkt, in dem jeder in seinem Leben etwas bewirken kann.

Wir nehmen unser Leben als Abfolge von Momenten wahr. Dabei nehmen Vergangenheit und Zukunft gefühlt den meisten Raum ein. Dieses Gefühl täuscht, wie so vieles, was dem Verstand entspringt.