2-3 Nachteile der Hochsensibilität

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Wer Vorteile im Leben hat, der hat auch Nachteile. Meistens halten sich beide Seiten die Waage.

Die meisten HSP geben an, dass sie das Gefühl haben, ein lebendigeres Innenleben zu besitzen als Normalsensible. Manche sagen sogar, dass ›normale Leute nicht richtig geradeaus denken können‹. Das ist natürlich Quatsch. Solche Aussprüche habe ich hauptsächlich von vorwiegend logisch veranlagten HSP gehört. 

Da das Gehirn einer HSP den ganzen Tag auf Hochleistung läuft und sie immerzu über irgendetwas nachdenken, fällt es ihnen schwer zu glauben, dass es anderen Menschen anders ergeht. Das ist wohl ein grundsätzliches Problem von Hochsensiblen. Sie denken meistens, dass alle anderen genau so sind und funktionieren wie sie selbst. Zumindest, bis sie jemand auf den Unterschied aufmerksam macht. Darauf reagieren sie oft überrascht oder enttäuscht, weil das für sie bedeutet, dass sie selbst auch anders als andere sind. Wer ist schon gerne anders? Die meisten Hochsensiblen, die nicht in einer Umgebung aufwachsen, in der vorwiegend HSP leben, spüren schon in früher Kindheit, dass sie nicht wie die übrigen Kinder sind und oft versuchen sie sich anzupassen. Diese Anpassung und der Versuch ›normal‹ zu sein, endet in der Unterdrückung ihrer ureigenen Bedürfnisse. Sie richten sich nach dem, was der Durchschnitt der sie umgebenden Menschen ihnen gegenüber als ›normal‹ definieren. Der krampfhafte Versuch der Anpassung kann sich in Krankheiten oder unterschwellig gärender Unzufriedenheit manifestieren, da sich die unterdrückten Bedürfnisse unter der Oberfläche immer stärker melden.

Außerdem kommt hinzu, dass sie mehr wahrnehmen und sich gerne von vorn herein einen Überblick über die Situation verschaffen, in der sie sich befinden. Möglichst noch, bevor sie hineingehen. Sie denken immer schon zu Beginn eines Treffens über die möglichen Abläufe und den Ausgang der Begegnung nach und berechnen unterbewusst die Wahrscheinlichkeiten, mit denen sie eintreffen könnten. 

Hochsensible haben im Normalfall ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis und sind anfälliger für Ängste. Deswegen kalkulieren sie zu allererst die Gefahren, die auf sie und ihre Mitmenschen zukommen könnten und danach gleich einen Weg, diese zu vermeiden. Deswegen ist ihnen unklar, warum Normalsensible gefahrvolle Situationen und Ereignisse nicht vorher haben kommen sehen. Sie besitzen eine natürliche Gabe einzuschätzen, welche Reaktion eine Aktion (Handlung) hervorbringt. Wenn du das tust, wird es funktionieren. Oder auch: Wenn du das tust, wirst du auf die Nase fallen. Sobald sie anderen Ratschläge erteilen, wird ihnen diese Fähigkeit oft übel genommen. Entsprechende Äußerungen wirken auf andere rechthaberisch. Dabei wollen wir HSP nur helfen.

HSP werden oft als Besserwisser wahrgenommen. Das kommt daher, dass sie sich mit den Themen, die ihr Interesse wecken, in extremem Umfang detailliert auseinandersetzen. Dabei sind sie sehr gründlich. Diese Eigenschaft teilen sie mit Menschen mit dem Asperger Syndrom. Durch ihre Serviceorientierung wollen sie dieses Wissen gern mit anderen teilen, da geteiltes Wissen erfahrungsgemäß der gesamten Spezies Mensch bei der Entwicklung weiterhilft. 

Hochsensible gelangen schneller an ihre Belastungsgrenze. Jüngere HSP überschreiten diese gern und überreizen sich regelmäßig auch über längere Zeiträume hinweg. Sie setzen sich gern großen Menschenmassen aus, am liebsten betrunken. Manche greifen auf Drogen aller Art zurück, um ihren Gedankenstrom zu betäuben. Andere stürzen sich in Arbeit und leisten diese für zwei. Insgesamt versuchen jüngere HSP durch Ablenkung und Betäubung das Übermaß an Wahrnehmung zu reduzieren. 

Oft ist ihnen die Welt einfach zu viel und sie bemerken es nicht.Haben sie endlich herausgefunden, dass sie hochsensible Menschen sind, finden meistens größere Veränderungen im eigenen Leben statt. Die älteren HSP legen sich eine reizärmere Umgebung und Lebensart zu, suchen sich neue Freundeskreise aus Gleichgesinnten und wählen einen ruhigeren Wohnort. Viele Hochsensible sondern sich mit zunehmendem Alter mehr von der Gesellschaft ab, da sie deren selbstzerstörerische Ausrichtung nicht verstehen und das oberflächliche Streben nach Materiellem nicht teilen. 

Oft geschieht dies auch, da sie viel Ablehnung aufgrund ihrer besonderen Wahrnehmung und den daraus resultierenden Ansichten erfahren haben und mit Normalsensiblen im Privatleben nichts mehr zu tun haben wollen.

Richten Hochsensible sich vollkommen nach ihren Bedürfnissen, kommen sie ebenso lange mit den Energien aus wie Normalsensible. Sie benötigen öfter kleine Pausen über den Tag verteilt, in denen sie sich dem Input der Außenwelt entziehen und erst einmal die gesammelten Eindrücke verarbeiten. 

Körperlich können HSP sowieso genau das Gleiche leisten wie Normalsensible. Manche Hochsensible härten sich extra ab, damit sie sich nicht immer anhören müssen, dass sie sich nicht so anstellen oder keine Weicheier und Sensibelchen sein sollen. Abhärtung bedeutet auch die Verdrängung von Schmerzen, Gefühlen und Reizen und kostet zusätzlichen Energieaufwand.

Leider ist es noch nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass es Hochsensible gibt, obwohl bereits im alten China vor viertausend Jahren die weisen Menschen und Künstler eine Sonderstellung hatten. Dies waren Hochsensible. Man ermöglichte es ihnen, ein sorgenfreies Leben zu führen und entband sie von Alltagspflichten. Dafür bekam man gute Ratschläge, wunderschöne Kunstwerke und erstklassige Unterhaltung. Heutzutage sind HSP gezwungen, einen stressigen Arbeitsalltag zu meistern, der nicht für sie geschaffen ist. Sie verbiegen sich, um den Tag irgendwie zu überstehen und sind am Nachmittag bereits so erschöpft, dass sie kaum noch etwas zu Stande bringen. Viele Hochsensible, die das über Jahre mitmachen, sind auf dem Weg in eine Depression, (z.B. Burn-out) oder zu einem Nervenzusammenbruch, sind daran knapp vorbeigeschrammt oder haben es bereits hinter sich. HSP, die auf die Arbeitsmühle nicht angewiesen sind, oder deren Arbeitgeber ihnen ein flexibles Zeitmanagement zur Verfügung stellen, vollbringen wahre Wunder. Die meisten HSP sind sehr kreativ in der Erledigung ihrer Aufgaben, solange man sie machen lässt, wie sie es für richtig halten. Sie fühlen sich von innen heraus verpflichtet, ordentliche Arbeit abzugeben. Sie erledigen Aufgaben richtig oder gar nicht. Allerdings werden sie nicht gerne kontrolliert, da dies Schuldgefühle in ihnen weckt, die sie aus der Kindheit mitschleppen. Diese Schuldgefühle haben nichts mit der aktuellen Situation gegenüber dem Kontrollierenden zu tun.

Die Belastungsgrenze ist auch unter HSP verschieden. Der eine nimmt nicht ganz so viel wahr wie der andere oder das Gehirn wieder eines anderen ist nicht ganz so leistungsfähig. Außerdem spielt das Alter eine Rolle, denn mit zunehmendem Alter sinkt die zur Verfügung stehende Energie pro Tag und die Regenerationszeit verlängert sich. Dafür lassen nach und nach die Sinne nach und die Anzahl der wahrgenommenen Reize verringert sich. Allerdings bleibt die Anzahl immer viel Höher, als bei einem Normalsensiblen. Deswegen kann jeder nur für sich selbst feststellen, wo seine Grenzen liegen.

 

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Beispiele, womit wir schnell an unsere Belastungsgrenze getrieben werden:

Die meisten HSP mögen keine größeren Menschenansammlungen, zumindest nicht im nüchternen Zustand. Bedenkt man, dass sie jeden Menschen, der für mehr als einige Sekundenbruchteile in ihr Blickfeld gerät, immer unterbewusst und auch manchmal bewusst einschätzen, kann sich jeder vorstellen, wie das bei hundert oder sogar Hunderten von Menschen sein muss. In einer Fußgängerzone oder Passage an einem Samstagnachmittag fühlen sich einige Hochsensible bereits nach zehn bis fünfzehn Minuten schier überfordert. Nach einer Stunde ist es für viele die Hölle. Deswegen statten sie sich in solchen Situationen gern mit Kopfhörern und ihnen bekannter Musik aus. So ersetzen sie zumindest die unbekannte Geräuschkulisse mit einer bekannten, die sie beruhigt. Darum sind HSP in fortgeschrittenem Alter jenseits der Zwanziger auch so gern allein, zu zweit oder maximal in einer Kleingruppe unterwegs. Am liebsten irgendwo in der Natur, wo sich nicht so viele andere Menschen bewegen.

HSP stehen Arbeit im Grundsatz sehr positiv gegenüber und sind sich nicht zu schade, auch ›niedere‹ Tätigkeiten (die meistens sogar die wichtigsten sind) zu verrichten. Allerdings am liebsten eine nach der anderen. Sind sie gezwungen, viele Aufgaben in kurzer Zeit zu lösen, die alle unterschiedliche Themen behandeln, sind sie oft schnell überfordert. Leider ist diese Arbeitsweise in vielen Berufen üblich. Eine Zeit lang kann ein HSP das mitmachen, aber dann benötigt er doch eine längere Ruhepause. Abhilfe schafft das Erstellen von Prioritätslisten und das Abarbeiten der anfallenden Tätigkeiten nacheinander. Aufschreiben ist sehr gut für HSP, denn was man aufschreibt, kann aus dem Gedankenkarussell verschwinden.

Eine laute Umgebung ist für viele HSP furchtbar anstrengend, da sie die Hintergrundgeräusche nicht herausfiltern können. Sie hören dann beinahe alles gleich laut und intensiv. Am schlimmsten sind ungleichmäßige Hintergrundgeräusche im hohen bis mittleren Frequenzbereich. Tritt lautes Rauschen auf und ein Hochsensibler unterhält sich mit jemandem, der genau vor ihm steht, muss er sich sehr auf sein Gegenüber konzentrieren, damit er alles Gesagte von ihm mitbekommt. Schon nach wenigen Minuten kann er total genervt sein. Er versteht dann oft einzelne Worte nicht, weil ihre Frequenz sich mit der des Rauschens überschneidet. Bei einigen HSP erzeugt Lärm sogar körperliches Unwohlsein. Plötzlicher Lärm kann sogar zu einer Schreckstarre führen. Manche HSP sind dann kurz unfähig weiter zu sprechen oder zuzuhören.

Bei sehr emotionalen Menschen oder in emotionalen Umgebungen können HSP schnell überfordert werden. Gerade, wenn sie selbst sehr emotionale Menschen sind und eine ausgeprägte empathische Fähigkeit besitzen. Die Emotionen anderer Menschen müssen sie ebenfalls mit verarbeiten. Dabei ist es belanglos, ob es sich um eine gute oder schlechte Emotion handelt. Emotionen anderer Menschen werden anstrengender, je deutlicher sie zu Tage treten oder wenn sich die Anzahl der Menschen vergrößert, die starke Emotionen ausdrücken. Eine starke Emotionsflut kann einen empathischen HSP in regelrechte Rauschzustände versetzen. Als Beispiel nenne ich hier einmal große Konzerte, Musikfestivals, Sportevents in Stadien. Die Euphorie kann HSP besonders stark beeinflussen. Umgekehrt kann es in Trauer- oder Selbsthilfegruppen dazu kommen, dass HSP sich besonders tief in die Leid- und Trauergeschichten der anderen begeben und darin zu ertrinken drohen. Streit und aggressives Verhalten kostet die HSP immer mehr Energie, als Normalsensible. Beides kann als hohe Anstrengung und Belastung empfunden werden und sogar Angstattacken auslösen.

Sowohl Medikamente als auch jegliche Art von Drogen und Alkoholika wirken bei HSP doppelt oder mehrfach stark. Entweder tritt die Wirkung während des Konsums schneller ein und wird als sehr stark empfunden oder die Nachwirkungen brauchen längere Verarbeitungszeit, bis sie abklingen. Zum Beispiel sind HSP nach medizinischen Eingriffen, bei denen Beruhigungs- oder Betäubungsmittel verwendet werden, doppelt bis zehnmal so lange müde oder fühlen sich schlapp. Wo andere zwei oder drei Kopfschmerztabletten benötigen, reicht einer HSP oft nur eine halbe. Der Kater nach durchzechten Nächten hält zwei Tage an oder die HSP war nach der Hälfte der Alkoholmenge schon betrunken im Vergleich mit seinen normalsensiblen Freund:innen.

Stellen Sie sich unter den Umständen mal eine HSP in einem Fußballstadion genau zwischen den Fanblocks der beiden Mannschaften vor. Sehr laute Umgebung angefüllt mit Tausenden von Menschen, vielen emotionalen Reaktionen, abwechselnd Freude, Ärger und Frust, je nachdem, wessen Mannschaft führt. Nach dem Spiel wird heiß diskutiert und mit viel Alkohol gefeiert. Trotzdem tun sich das viele HSP an und sind nachher froh, wenn alles vorbei ist und sie sich am Sonntag ausruhen können. Wetten, an diesen Sonntagen liegt dann nicht viel an?