2-4 Die Sensorik

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Für Hochsensible ist es essenziell wichtig zu wissen, wie sie funktionieren. Da bei jedem Hochsensiblen die Sinne unterschiedlich stark angesprochen werden, gilt es herauszufinden, welcher Sinn wie stark ausgeprägt ist. Nur wenn man begreift, auf welchen Wegen es zu Überreizungen kommt, kann man entsprechend gegensteuern und die Überreizung gezielt abbauen.

Überreizung ist der größte Nachteil der Hochsensiblen, an dem viele andere Effekte ankoppeln. Eine Überreizung findet immer dann statt, wenn mehr Reize aufgenommen werden, als verarbeitet werden können. Sie wirkt sich auf unterschiedliche Weise aus. Bei mir häufig in einer Art Völlegefühl im Kopf und dem Bedürfnis, mich an einen ruhigen, dunklen Ort zu verkriechen. Ist meine Haut von Berührungen übersatt, mag ich nicht mehr berührt werden. Waren meine Ohren zu vielen Geräuschen, wie zum Beispiel Gesprächen und Telefonaten, ausgesetzt, mag ich nichts mehr hören. Habe ich zu viel angeschaut oder gelesen, möchte ich mit geschlossenen Augen auf der Couch liegen und lieber etwas hören. Manchmal will ich auch einfach nur vollkommene Ruhe. Es ist ungefähr dasselbe wie nach einem Tag voller Bewegung oder Herumstehen, wenn die Beine schwer werden und die Füße schmerzen.

Dann will ich nur noch auf die Couch und mich möglichst nicht mehr regen, damit sich der Körper regenerieren kann.

Werfen wir nun einmal einen Blick auf die Sinne, die uns zur Verfügung stehen.

Unser Körper verfügt über 5 Hauptsinne. Diese werden auch Sensoren genannt:

 

Sehen (visueller Sensor)

Hören (auditiver Sensor)

Riechen (olfaktorischer Sensor)

Schmecken (gustatorischer Sensor)

Tasten (taktiler Sensor) auch Gefühl auf der Haut, wenn man berührt wird

 

In der modernen Physiologie werden noch 4 weitere Sinne hinzugezählt:

 

Temperatursinn (Thermorezeption)

Schmerzempfindung (Nozizeption)

Gleichgewichtssinn (Vestibulärer Sinn)

Körperempfindung und Tiefensensibilität (Interzeptor): Hier geht es zum einen um das Gefühl für die inneren Organe (Körperempfindung) und das Gespür für die Rezeptoren an Muskeln, Sehnen und in Gelenken (Tiefensensibilität). Die Tiefensensibilität ist für alle Bewegungen, das Greifen und Festhalten erforderlich. Sie liefert Informationen über Bewegungsgeschwindigkeit, Lage des Körpers (stehend, sitzend, liegend, usw.) und den Abstand und Lage der Gliedmaßen im Verhältnis zum Körper. Tänzer, Akrobaten, Jongleure, Musiker, Seiltänzer, Sportler, Bergsteiger und Fahrradfahrer brauchen eine ausgeprägte Tiefensensibilität.

 

Ich möchte hier noch einen weiteren Sinn hinzufügen: den empathischen Rezeptor. Dieser ist eher ein Zusammenschluss aus den äußeren Sensoren und dem eigenen Mitfühlen und im eigentlichen Sinn kein eigenständiger Sensor.

Diese insgesamt zehn Sinne können über unterschiedlich starke Filter verfügen. Bei Normalsensiblen sind diese so gestaltet, dass die für sie momentan unwichtigen Reize der jeweiligen Sinne ausgeblendet werden.

Für die einzelnen Sinne könnte das wie folgt aussehen.

 

Beispiel: Ein Besuch in einem Restaurant aus der Perspektive des Normalsensiblen.

 

Sehen: Gehe ich mit jemandem essen, dann schaue ich nur meine:n Begleiter:innen an und sehe nur ihn oder sie. Die Umgebung darum herum ist mir vollkommen egal. Darauf verschwende ich keinen Gedanken, außer jemand drängt sich aktiv in mein Blickfeld. Etwa, wenn der Kellner das Essen vor mir abstellt.

Hören: Spricht jemand mit mir, dann nehme ich nur dessen/deren Worte wahr. Die restlichen Geräusche ignoriere ich automatisch, da sie irrelevant sind. Sie wirken eher wie statisches Rauschen. Ausnahme: jemand veranstaltet sehr viel Lärm. Zum Beispiel der Kellner lässt ein Glas fallen, Gäste diskutieren oder lachen übermäßig laut.

Riechen: Das Essen riecht ganz wunderbar. Der Duft, den mein Gegenüber aussendet, ist nun verblasst und wird vom Essensgeruch überlagert und ersetzt. Ich nehme meistens nur starke Gewürze wie Chili, Curry, Muskat und Zimt wahr. Alles andere vermischt sich zu ›gutem‹ und ›schlechtem‹ Geruch.

Schmecken: Das Essen schmeckt wirklich gut. Hawaiipizza geht ja auch immer. Sie schmeckt auch beinahe überall gleich, wenn nicht jemand zu viel gesalzen oder gepfeffert hat. Einzelne Nuancen schmecke ich nicht heraus, sondern nur eine Mischung, die ich mit gut oder schlecht bewerten kann.

Tasten: Nach dem Essen nehme ich die Hand meine:s Partners:in an. Dessen:deren Haut fühlt sich wie Haut an. Ich mache mir keine weiteren Gedanken darüber.

Temperatur: Die Temperatur ist wie in öffentlichen Räumen üblich.

Schmerzempfinden: Die Kopfschmerzen sind erträglich. Nachher nehme ich eine Tablette.

Gleichgewicht: Mit meinem Gleichgewicht ist alles in Ordnung.

Körperempfindung: Mit meinen Organen ist alles in Ordnung, die Lage meines Körpers im Raum ist stabil und wie erwartet.

Empathie: Meinem Gegenüber scheint es gut zu gehen. Er:Sie äußert sich nicht zu seinem:ihrem Zustand.

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Nun schildere ich dieselbe Szene aus Sicht eines Hochsensiblen, bei dem alle Sinne ausgeprägt sind. Davon gibt es wahrscheinlich nur sehr wenige. In Wirklichkeit wird jede HSP nur einen Teil davon wahrnehmen. 

Sehen: Ich schaue mein Gegenüber an. Während ich seinen:ihren Ausführungen lausche, ziehen die Gemälde an den Wänden meine Blicke magisch an. Dann geht ein Kellner durch mein Gesichtsfeld oder ein interessanter Mensch, den ich mir genauer anschaue. Des Weiteren bemerke ich die Anspannung im Gesicht meiner:s Gesprächspartners:in, obwohl sie:er von amüsanten Dingen spricht. Wahrscheinlich hat er:sie Sorgen, die sie:er nicht mit mir teilen möchte und sie deswegen lieber überspielt. Die Bilder sind wunderschön, ich frage mich, welche Stellen der Welt sie abbilden.
Leider sind die Lampen hier zu hell, als dass ich mich wirklich wohlfühlen könnte.

Hören: Ich nehme das Gespräch wahr, in das mich mein Gegenüber verwickelt. Am Nachbartisch reden vier Männer über den anstrengenden Arbeitstag, der hinter ihnen liegt und die anstehende Fußballsaison. Ihre Lieblingsvereine sind der HSV und Werder Bremen. Hinter mir plant ein Pärchen den gemeinsamen Urlaub auf den Seychellen und zwei Tische weiter entfernt tratscht ein Frauenklub über die Verfehlungen ihrer betrunkenen Kerle auf der letzten Party. Zudem nervt mich das Summen der Klimaanlage und das Brummen der Heizung.

Riechen: Die Hawaiipizza riecht wunderbar, genauso wie die Pasta meines Gegenübers. Die Frau, die eben vom Frauentisch zur Toilette an unserem Tisch vorbeigegangen ist, trägt dieses Parfum, das ich so gerne mag. Dafür riecht der Kellner ein wenig nach Schweiß, kein Wunder bei dem Stress, den er bei vollem Lokal hat. Beuge ich mich zum Essen über den Teller, steigt mir der Geruch des Pfeffers und des Essigs in die Nase. Ich muss die Menage beiseite stellen. In diesem Restaurant haben sie die Tomatensoße auf der Pizza mit Liebstöckel und Thymian gewürzt. Der Käse ist ein mittelalter Gouda. Er besitzt einen kräftigeren Geruch.

Schmecken: Das Essen schmeckt toll, wie immer. Diesmal hat es der Koch mit dem Basilikum etwas übertrieben. Vielleicht war das nicht mehr ganz frisch und musste weg. Ich probiere noch von der Pizza meines Gegenübers und stelle fest, dass auch bei seinen:ihren Belägen der mittelalte Gouda tatsächlich besser passt, als der junge. Der hat nämlich fast keinen Eigengeschmack. Die verwendeten Paprika und Champignons sind ganz frisch, das verrät mir die Konsistenz. Meine Pizza war ein wenig zu lange im Ofen, weshalb die Säure der Kombination stärker zu Tage tritt. Außerdem kommen die leichten Röstaromen des dunklen Bodens durch.

Tasten: Meine Kleidung fühlt sich gut an. Nichts stört mich daran. Alles ist glatt, nichts kratzt. Noch vor dem Essen fasse ich unbemerkt das Tischtuch an, um mich zu vergewissern, aus welchem Stoff es gefertigt ist. Wahrscheinlich Polyester, so wie es sich anfühlt. Die Verzierungen sind aufgedruckt und erscheinen nur optisch wie gestickt. Als ich die Hand meines Gegenübers nehme, fällt mir auf, dass er:sie sich die Hände diesmal eingecremt hat. Die Haut fühlt sich viel weicher an, als beim letzten Mal. Sie:Er schwitzt leicht bei der Berührung und zittert ein wenig.

Temperatur: Die Temperatur ist angenehm, jedoch ein bis zwei Grad über meiner Wohlfühlgrenze. Bei mir geht es ja nach dem Motto: Lieber zu kalt, als zu warm. 

Schmerzempfinden: Ich leide unter moderaten Kopfschmerzen und im linken Teil des Rückens unter leichten Verspannungen. Außerdem sitzen die Schuhe nicht richtig und drücken mir empfindlich gegen den Spann. Ich brauche bequemere Schuhe. Ich könnte demnächst Bauchschmerzen bekommen. Eine leichte Spannung bemerke ich bereits. Deswegen habe ich die Pizza genommen und nicht den Grillteller mit 5 Sorten Fleisch, schwerer Bratensoße, Pommes und Salat.

Gleichgewicht: Mir ist ein wenig schwindelig. Entweder bahnt sich da eine Erkältung an oder ich hatte zu viel Stress heute.

Körperempfindung: Mein Magen grummelt etwas und ich spüre eine Unregelmäßigkeit im Kreislauf. Mein Körper sitzt aufrecht und die Hände liegen auf dem Tisch. Ich spüre meine Füße deutlich auf dem Fußboden.

Empathie: Ich bemerke, dass mein Gegenüber besorgt ist. Er:Sie überspielt es mit Humor und vorgetäuschter guter Laune. Der Kellner ist gestresst und weiß nicht, wo ihm der Kopf steht. Die vier Arbeiter am Nachbartisch sind frustriert. Das Pärchen, das in die Urlaubsplanung vertieft ist, ist entspannt und nicht mehr frisch verliebt. Sie kennen sich wohl schon länger. Die lästernden Frauen sind fröhlich beschwingt und voller Zuversicht. Sie genießen den Abend. Als einer der Arbeiter wütend über den Vorarbeiter schimpft, sinkt auch meine Laune. Jetzt öffnet sich mein Gegenüber und berichtet von seinem:ihrem Missgeschick, weswegen sie:er einen schiefen Haussegen erwartet. Die Stimmung ist ganz den Bach herunter. Ich kann ihm:ihr zwar gute Tipps geben und sie:er ist erleichtert, dafür geht es mir jetzt schlecht. Ich werde noch bis zum nächsten Mittag benötigen, die Emotionen alle abzubauen und zu verarbeiten.

 

Während der:die normalsensible Essenspartner:in erleichtert weiterzieht, um sich die halbe Nacht in der Diskothek zu vergnügen, schleppt der:die Hochsensible sich nach Hause und beschließt, gleich zu Bett zu gehen, wo sie:er über die Erlebnisse des Abends nachdenken und noch eine Stunde an die Decke starrend wach liegen wird. Erschöpft schläft er:sie um 22 Uhr ein.

 

Vielleicht hast du das eine oder andere wieder entdeckt und kannst es nachvollziehen.

Bei den meisten HSP sind 2 oder 3 Sinne erweitert bzw. die Filter dieser Sinne nicht so ausgeprägt.